Marie Gurgsdies war fast 50 Jahre lang die Hausangestellte und Köchin der Pfarrerfamilie Seeger. Sie hat in dieser Zeit alle berufsbedingten Umzüge der Familie mitgemacht und lebte dabei unter anderem in Danzig und von 1897 bis 1913 in Hela. (Zu dieser Zeit wurde auch das Foto aufgenommen). In diesem Artikel, aufgeschrieben von Familie Seeger, erzählt die alte Marie aus ihrem Leben; wie sie unter 12 Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, bei verschiedenen Arbeitsstellen ausgenutzt wurde und schließlich bei Familie Seeger / Urbschat in Stellung ging. Erst nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass sie bei ihrer neuen "Herrschaft" weder ausgebeutet noch geschlagen wird, wie es zuvor immer der Fall war. Ganz im Gegenteil...
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DIE ALTE MARIE ERZÄHLT
Fast fünfzig Jahre hat sie der Pfarrfamilie Seeger als Köchin und Hausgehilfin gedient. Ihre Treue begleitete uns von 1895 bis 1934 von Danzig nach Hela, Berlin und Klein-Wanzleben. Sie schaffte den Eltern die Zeit und schenkte ihre Kraft, damit der Dienst in der Gemeinde ungehindert getan werden und das künstlerische und geistige Leben in der Familie sich entfalten konnte. Wer sie noch kennt, wird sich an ihre kleine, etwas gebückte Gestalt erinnern, wird ihr graues Haar vor sich sehen und den breiten Klang ihrer ostpreußischen Mundart noch hören. Zweiundzwanzig Jahre alt war sie, als sie in das Haus der Großeltern Urbschat kam, im 71. Jahre ihres Lebens ist sie in die Ewigkeit gegangen. Drei Generationen hat sie in zurückhaltender Selbstlosigkeit gedient und sie ist viel mehr für uns gewesen als Magd und Köchin: Glied unserer Familie!
Unsere Sorgen waren Ihre Sorgen, unsere Freuden ihre Freuden. Wie oft haben Freunde und Bekannte es ausgesprochen: "Ich kann mir das Pfarrhaus Seeger ohne die alte Marie gar nicht denken!"
Sie hielt das Haus sauber und das Kochen verstand sie so gut, daß vornehme Gäste uns oft um sie beneideten. Mindestens ebensogut konnte sie erzählen ... keine Märchen, sondern wahre Geschichten aus ihrem Leben. Das Kochen hatte sie gelernt, das Erzählen konnte sie von selber. Wie oft sind wir zu ihr in die Küche gekommen und haben ihr beim Abtrocknen des Geschirrs geholfen. Dann baten wir Sie : "Mia, erzähl' uns doch eine Geschichte!" Man mußte ihr einfach zuhören, so lebensnah und interessant war, was sie berichtete. Oft führte sie uns in ihre Kinderzeit, in die Mitte ihrer Eltern an der russischen Grenze Ostpreußens, in der Schmutz und bitterste Armut herrschten. Unvergeßlich sind uns die Begebenheiten aus ihrer Jungmädchenzeit, in der sie als Dienstmagd ausgenutzt, geschunden und umhergestoßen ihr Brot essen mußte. Die "gute, alte Zeit" war hart und rücksichtslos.
Ihrem Stamme nach war Mia Litauerin, wenn auch ihr Elternhaus diesseits der damaligen deutschen Grenze stand. Ihr Familienname war fremdartig, für uns schwer auszusprechen. Sie hieß: "Gurgsdies". Weil wir Kinder uns nichts dabei denken konnten, sagten wir einfach: "Mia Gurkenstiel!" Litauisch war ihre Muttersprache und in der dortigen Volksschule hat sie kaum mehr gelernt als Angst vor ihrem Lehrer. Als sie zu den Großeltern kam, konnte sie nur gebrochen etwas Deutsch. Bis zu ihrem Lebensende hat sie das Litauische nicht vergessen. Noch auf ihrem Sterbebett hat sich manchmal die schwermütigen und langgezogenen litauischen Choräle gesungen:
„Filmus rankum
as vor kete
belle weme
belle weme
ante lauk eme“ ...
so hörte es sich jedenfalls an, wenn sie sang. Wer die litauische Sprache kann, wird wahrscheinlich lachen über die verstümmelten Worte, die wir aus ihrem Gesang herausgehört haben.
Manchmal kam ihr das Litauische zugute, dann nämlich, wenn sie ärgerlich war. Wer ihre Ungnade erregt hatte, wurde mit litauischen Scheltworten bedacht und weil sie eben niemand verstand, war ihr auch niemand böse. Eins ihrer häufigsten Schimpfworte war der Ausdruck „0noss“, was wohl so viel wie “du Nichtsnutz“ bedeutete.
Eine weite Reise müssen wir in das Jugendland der alten Marie machen: In das östlichste Grenzgebiet des damaligen Deutschland. Dort stand hinter Sumpf und Wald, hinter Meer und Ried ihr Geburtshaus in dem kleinen Nest „Bärenfang“ - drei Meilen hinter Weihnachten, würden wir sagen. Dort wuchs sie auf unter zwölf Geschwistern. Ihr Vater war Maurer, aber weil es in jener einsamen Gegend nicht viel zu maurern gab, verdiente er sich sein Brot meist als Waldarbeiter.
Viel Geld war da nicht zu verdienen, er war froh, wenn er seine große Kinderschar satt machen konnte. Nicht einmal die wichtigsten Möbelstücke hatte er anschaffen können. So sah man die Armut der Kate auch von innen. Die Kinder mußten zu dreien und vieren in einem Bett schlafen und als die Familie immer größer wurde, brachte der Vater in eine Ecke eine Strohschüttung auf der die größeren Kinder schliefen.
In der Wohnküche stand ein großer, wahrscheinlich aus Ziegeln gebauter Herd. Darin befand sich zu ebener Erde eine geräumige Höhlung, worin meist das feuchte Holz getrocknet wurde. Aber wenn es im Stall ein kränkliches Ferkel gab, bei dem das Fettansetzen zu langsam ging, wurde das Holz aus seinem Trockenloch herausgenommen und das Ferkel hineingesetzt. In der wohligen Wärme sollte es schneller wachsen. Allerdings hat Mia uns nie berichtet, welche Erfolge dieses Mästverfahren gehabt hat. Mit der häuslichen Sauberkeit kann es dort nicht weit her gewesen sein! - Wahrscheinlich mußte die Mutter nebenher noch Geld dazuverdienen, weil der Verdienst des Vaters nicht ausreichen konnte. Vielleicht hat sie als Waldarbeiterin mitgeholfen, vielleicht auch als Hilfskraft bei einem Bauern. Wie sollte sie unter solchen Umständen zwölf (oder mehr?) Kinder sauber halten? Den Mädchen kämmte sie alle Woche nur einmal die Haare, flocht ihnen die Zöpfe recht fest und band sie unten mit einem derben Faden zusammen. „So. Das muß halten für die nächsten 8 Tage!“ Und das war voller Ernst!
An einem Spätherbstnachmittag hatte die Mutter ihre Kinder in die Hütte eingeschlossen und war fortgegangen. Beim Beginn der Dämmerung klopft es hart an die Holztür. „Kinder macht mir auf, ich bin euer Vater!“ Das wollten die Kinder nicht glauben, der Vater war ja in den Krieg nach Frankreich gezogen (1870/71) - „Kinder, macht mir doch auf, ich habe euch auch was Schönes mitgebracht!“ - Aber die Kinder gaben nicht nach, sie glaubten, es sei ein Zigeuner, der stehlen wollte oder gar eins von ihnen mitnehmen, weit über die russische Grenze. Da verkrochen sie sich in ihrer Angst, das eine in den Schrank, das andere in eine leere Tonne, die anderen suchten ihre Zuflucht auf dem Boden. Da steigt doch der Mann durch ein offen gebliebenes Fenster ein, jetzt zieht er die schreckensbleichen Kinder aus ihren Verstecken hervor. Vergeblich bemüht er sich um ihr Zutrauen, sie bleiben in scheuer Entfernung. Da - zum Glück kommt die Mutter heim. „Mutter, Mutter, dieser fremde Mann ist durchs Fenster …“ Mit Staunen sehen die Kinder, wie der angeblich fremde Mann die Mutter umarmt und küßt .... „Aber ihr dummen Gören, das ist doch wirklich euer Vater! Er hat sich im Kriege doch bloß einen Bart wachsen lassen!“ Nun ist das Vertrauen bald da. Jedes Kind bekommt sein Geschenk, jedes Mädchen seine Puppe, welch ein Glück nach dem Schrecken! Natürlich sind die Puppen von der langen Reise aus Frankreich hungrig und bekommen zunächst einmal ein kräftiges Essen. Dann werden sie von den kleinen Müttern auf den Hof gebracht in das kleine Häuschen ganz hinten, das für die menschliche Verdauung bestimmt ist. Denn Puppen sollen doch alles ebenso haben, wie richtige Menschen! „Aber meine Puppe fiel in das Loch hinein und ertrank, und ich heulte und schrie, aber das nutzte alles nuscht“, so erzählte die alte Marie. Wie oft hat sie diese Geschichte zum besten gegeben, aber sie wurde uns nie langweilig und wir haben ihr immer wieder zugehört.
Nach seiner Heimkehr findet der Vater wieder Arbeit als Holzfäller. Die kleine Marie hat ihm das Mittagessen auf den Kahlschlag zu bringen. Aber bei einem dieser Gänge verfehlt sie den Weg und irrt den ganzen Tag im Walde umher. Als der Vater sie am Abend erschöpft und verweint auffindet, trägt sie das Essgeschirr mit dem längst kalt gewordenen Mittag immer noch bei sich. Sie ist gar nicht auf den Gedanken gekommen, ihren Hunger damit zu stillen sondern hat versucht, mit Beeren auszukommen.
Ein anderes mal, als sie durch den Wald geht, hört sie im Gebüsch neben sich ein Rascheln und Laufen. Sie denkt an ein Reh, aber im gleichen Augenblick steht neben ihr ein großer schwarzer Hund mit tollwütigen Augen. Schaum steht ihm vor dem Maul. Das Kind, das gar nicht weiß, in welcher Gefahr es schwebt, zeigt keinerlei Angst.Der Hund beschnuppert das Mädchen und läuft weiter. Nach kurzer Zeit kommt ihr der Förster entgegen. „Kind, hast du einen schwarzen Hund gesehen?“ „Ja, eben hat er mich beschnuppert und ist dann weitergelaufen.“ - „Danke Gott, der Hund ist tollwütig, den suche ich schon lange!“
Schon als Schulmädel muß die kleine Marie mitverdienen. Zuerst hat sie die Gänse gehütet, dann mit anderen Geschwistern zusammen die Schafe des kleinen Dorfes. Diese Zeit ist besonders glücklich gewesen und die Kinder haben wohl manchen Sommertag mit den Tieren und Blumen gespielt. Marie als älteste führte den Klingelsteck, das Zeichen des Hirten. Das war ein Stab, an dem einige Glöckchen hingen, so groß etwa, wie man sie Katzen umhängt, damit sie nicht an die Vögel gehen. Die Schafe hörten auf das Klingeln und wenn sie den Stab schüttelte, kamen sie zu ihr.
In einem etwas größeren Dorf als Bärenfang war die Schule. Den weiten Weg dorthin mußte Marie mit ihren Geschwistern täglich zurücklegen. Der Lehrer war ein merkwürdiger Mensch. Jeder Schultag wurde mit einer überaus langen Schulandacht begonnen, während der der Lehrer selber eine umfangreiche, erbauliche Rede hielt. Die Lehrersfrau, die das fromme - wahrscheinlich frömmelnde - Wesen ihres Mannes nicht leiden konnte, stellte sich während der Andacht ins Nebenzimmmer, plärrte und blökte dort wie eine Irre, um die Kinder zum Lachen zu bringen und die fromme Rede ihres Mannes zu boykottieren.
Manchmal ließ der Lehrer Schulstunden ausfallen. Dann wurde den Kindern Spaten, Harke und Gießkanne in die Hand gedrückt und es ging in den Garten. Die Kinder freuten sich natürlich über die ausgefallenen Schulstunden und der Lehrer über die billigen Arbeitskräfte. So hatten beide Teile ihren Nutzen davon!
Über die Grausamkeit der damaligen Schulstrafen schütteln wir die Köpfe. In jeder litauischen Schule stand in der Ecke ein flacher Kasten mit harten Erbsen. Dorthinein mußten sich die Faulen und Ungehorsamen knien, wohl eine halbe Stunde lang oder noch länger, bis der Lehrer der Qual ein Ende setzte. Oder sie mußten einen langen Stock zehn Minuten lang mit waagerechten Armen halten. Die schmerzhafteste Strafe aber war folgende: Die Kinder mußten ihre Fingerkuppen senkrecht nach oben halten; mit einem Lineal schlug der Lehrer dann drauf, bis das Blut kam. Und dies nach der frommen Andacht! Ob die Kinder wohl gern zur Schule gingen?
Zum Konfirmationsunterricht hatten die kleinen Bärenfanger einen noch weiteren Weg: Zwei Stunden mußten sie wandern! Das war hart, besonders, wenn der ostpreußische Winter Schnee und Kälte brachte. Da kamen die Kinder verfroren - und hungrig - ins Pfarrhaus, wo der Unterricht stattfand. Die freundliche Pfarrfrau aber hatte Mitleid mit ihnen, lud sie ein und bewirtete sie mit heißem Kaffee und mit Butterbrot. Die Augen der alten Marie strahlten noch jedesmal auf, wenn sie uns davon erzählte. So kann eine kleine Wohltat in Dankbarkeit unvergessen bleiben.
Eines Nachmittags schwankt der Vater halb betrunken in die Bärenfanger Kate. Seine Hand streckt ein Stück Papier entgegen: Ein Lotterielos, er hat 20.000,-- Mark gewonnen. Nun wird ein Fest gefeiert. Und dann wird die alte Kate verkauft und bald zieht die Familie mit ihrem geringen Hausrat in ein größeres Dorf auf einen kleinen Bauernhof. Jetzt fängt ein besseres Leben an: Die Kinder bekommen Betten, die Mutter kauft ihnen neue Kleider und zum Sonntag gibt es einen Braten. Mit Sorge aber sieht die Frau, wie der Vater jeden Abend betrunken nach Hause kommt. Unglück und Armut hat er ertragen, aber das Glück erträgt er nicht. Es ist ihm zu Kopf gestiegen. Mit einmal hat er viele Freunde! Der Wirt aber borgt und borgt einen blauen Hunderter nach dem anderen. Die Felder des kleinen Hofes verlottern. Geld bringt die Ernte nur wenig. Das geht wohl ein Jahr so oder zwei. Dann ist die Herrlichkeit zu Ende. Der Bauer Gurgsdies hat sein Glück durch die Kehle - verjagt! Er darf wohl noch mit seiner Familie dort wohnen bleiben, aber Feld und Haus gehören ihm nicht mehr. Der Wirt freut sich!
Nun sucht der Bauer nach Arbeit, er hat ja früher einmal das Maurern gelernt. Es gelingt ihm. Er hat Glück. In der benachbarten Kleinstadt braucht man ihn auf einem Neubau. Er verdient ausreichend, aber das Trinken kann er nicht mehr lassen. Halb betrunken kommt er manchmal zur Arbeit. Da ereilt ihn das Schicksal. Seiner Sinne nicht mehr mächtig torkelt er mit schwerem Kopf über die Bretter des Baugerüstes. Da tut er einen Fehltritt und stürzt in die Tiefe. Sterbend heben ihn die Kameraden auf und bringen ihn ins Krankenhaus. - Es hat keinen Zweck mehr.
Für die Frau und die Kinder aber bedeutet es eine Erlösung. Jetzt brauchen sie keine Angst mehr zu haben, daß der Vater nachts johlend und stinkend nach Hause kommt und sie aus den Betten prügelt.
Die tapfere Mutter aber zieht mit ihren Kindern in die Kleinstadt und verdient sich als Näherin ein karges Brot.
Nach der Schulentlassung und Einsegnung beginnt für Marie ein trauriges Leben. Sie wandert von einer Dienststelle als Hausmädchen in die andere, überall ausgenutzt und herumgestoßen. Alles läßt sie von sich fordern, alle Arbeiten tut sie willig, auch wenn die Anstrengungen ihre Kräfte übersteigt. Ihre „Herrschaften“ hatten bald heraus, daß das schüchterne und weltfern erzogene Kind sich lieber zu Tode arbeitet, als daß es einen Auftrag nicht ausführt. Sie merken bald, das Mädchen läßt sich alles sagen, alles bieten und nimmt alle Scheltworte geduldig hin, wenn Hausherr oder Hausfrau ihre schlechte Laune an ihm auslassen. Es ist nur ein Glück, daß die Mutter noch in der Nähe wohnt. Die rät ihrem wehrlosen Kinde, solche Stelle zu kündigen, ehe es Schaden an der Gesundheit nimmt, oder sie macht sich auf, geht selber hin, packt die Sachen ihrer Marie und läßt sie zu Hause sich ausweinen und sattessen - bis das Mädchen den nächsten Sklavendienst antritt.
Zunächst ist Marie Bauernmagd. Hart und schwer wird jetzt ihr Dienst. Zwar gibt es am Sonntag ein wenig Ruhe, die vom Bauern nur ungern und gezwungen gewährt wird. Aber am Montag früh wird das Kind bereits um l Uhr morgens geweckt, um die am Sonntag ausgefallenen Arbeitsstunden wieder aufzuholen. Stockschläge warten auf das Mädchen, wenn es sich nicht gleich erhebt. Und dann wird die ganze Nacht hindurch gearbeitet, bis das Vieh in den Ställen nach Futter brüllt.
Diese Tatsache zeigt, wie unser Volk damals vom Rausch des Verdienens und Geldmachens erfaßt war, und wie nicht nur die Großen ihre Arbeiter ausnützten, sondern wie auch die Kleinen sich gegenseitig ausbeuteten. Davon spricht auch folgende kleine Begebenheit:
Beim Schafhüten spielt Marie mit Steinen, die die Bauern am Feldrain zu einem Haufen zusammengetragen hatten. Sie zerschlägt einige Steine, um zu sehen, wie sie von innen aussehen. Auch ein großer, glatter Kiesel muß dran glauben. Als er zerspringt, zeigt er innen ein leuchtendes, glasklares Gelb. Während das Kind den strahlenden Bernstein betrachtet, kommt die Bäuerin mit Mittagessen. Ein Griff - und die beiden Hälften des Schmucksteines verschwinden im Korb der Frau. Marie hat nie wieder etwas von dem Stein gesehen und der Bauer hat ihr auch nicht den kleinsten Gewinnanteil an ihrem Funde gegeben. Während der Nacht muß Marie das Bett mit einer älteren Magd teilen. Wenn die Magd ihren Liebhaber mitbringt, dann läßt sich Marie von ihrer Kameradin ausquartieren, schläft auf dem Fußboden und deckt sich mit ihren Kleidern zu.
In Tilsit hofft sie auf bessere Menschen und erträglichere Arbeit. Sie wird Dienstmädchen in einem jüdischen Haushalt. Manches Stück Schweinefleisch hat sie wohl anfangs vom Markt geholt, bis sie lernt was "koscher" ist und was nicht. Staunend erlebt sie dort eine andere Welt: Sie muß das Passahlamm mit bereiten und lauscht an der Tür am Gründonnerstag Abend auf die hebräischen Gebete und Segenssprüche. Am Passahmahl nimmt sie natürlich nicht teil, aber die Fastenzeiten darf sie mitmachen. Die Synagogengottesdienste dauern an Festtagen stundenlang; dann muß Marie dem Hausherrn einen Korb mit Essen in die Synagoge bringen. Am Sabbat hat sie frei, am Sonntag muß sie arbeiten. Eines Sonntags kehrt sie die Straße vor dem Haus ihrer jüdischen Herrschaft. Von allen Kirchen läuten die Glocken. Da fällt es ihr auf die Seele, wie lange sie nicht in einer Kirche war. Denn immer hatten die Herrschaften ihr diesen Wunsch abgeschlagen - Da kommt ihre Schwester vorbei, die sich in Tilsit auch eine Stellung gesucht hat, „Marie, komm doch mit in die Kirche!“ „Nein, ich darf nicht, ich muß die Straße fegen!“ „ ... Du bist wohl verrückt ....“
Mit diesen Worten reißt ihr die Schwester den Besen aus der Hand, wirft ihn über den Gartenzaun, nimmt sie beim Arm, und es gehen die beiden in den Gottesdienst, die eine in Sonntagsstaat, die andere im Arbeitskleid. Als sie zurückkommt, erwartet die Hausfrau sie schon an der Tür. „Wo bist du gewesen, Marie!“ „In der Kirche!“ „Du bist entlassen!“
So packt sie ihre geringe Habe und schleicht geschlagen und heulend zu ihrer Mutter, die inzwischen als Näherin auch in Tilsit wohnt. Das schüchterne Mädchen glaubt, jetzt würde es von der Mutter ein Donnerwetter geben. Aber sie spricht ihrem Kinde Mut zu, gibt ihm bei sich ein Obdach und sucht ihm eine bessere Stelle. Bald tut sich eine scheinbar günstige Gelegenheit auf bei einer Familie GERULL, Arbeit gibt es auch hier über genug, denn eine Reihe von Kindern wollen ver sorgt und sollen erzogen werden. Aber die Leute sind freundlich, mit dem Essen ist auszukommen und am Sonntag darf man in die Kirche gehen. - Aber eine Schattenseite hat auch diese Stelle: Der Hausvater ist ein Säufer. Manchmal hörte Marie ihn in tiefer Nacht nach Hause kommen dann beginnt ein Toben, Schreien, Jammern, wenn er Weib und Kinder aus den Betten reißt, sie schlägt und dann auf den Korridor hinauswirft, wo sie frieren und weinen. Er aber riegelt das Schlafzimmer ab und schläft sich allein den Rausch aus.
Die junge Marie aber wird der geplagten Frau fast zur Freundin, sie trägt ihr Leid und ihre Sorge mit. Abends sitzt sie mit der Herrin lange auf, beide warten auf die Heimkehr des Hausherrn. Das haben sie wohl oft getan, bis sie einmal versuchen, ihn aus der Stammkneipe nach Hause zu holen. Vielleicht gelingt es ihnen, den Mann zur Einsicht zu bringen. Weil sie aber fürchten, daß er auf dem Heimweg einen seiner Wutanfälle bekommt, bewaffnen sich die beiden: Die Frau mit einem Kartoffelstampfer, Marie mit einem großen Kochlöffel. Diese Waffen verbergen sie unter ihren Schürzen. Aber zu einem "Überfall'' auf die Kneipe reicht der Mut nicht. Lange gehen sie an den Fenstern auf und ab und hören das Johlen der trunkenen Männer. Dann faßt sich die kleine, schmächtige Marie ein Herz und tritt zögernd in die Gaststube. Zunächst kann sie in dem dicken Tabakqualm kaum etwas erkennen. Als sie dann aber an den Schanktisch tritt und die rohen, alkoholgeröteten Gesichter der Trinker sieht, ergreift sie ein solcher Schrecken, daß sie, statt zur Tür hinauszueilen, alle Fassung verliert und unter einem leer stehenden Tisch kriecht. Dabei entfällt ihr der sorgsam versteckte Kochlöffel. Einen Augenblick verstummt das Johlen und Schwatzen. Es dauert eine Weile, bis die Männer begreifen, was da vor sich gehen sollte. Dann aber schüttet sich Spott und Gelächter über das Mädchen, das schüchtern unter ihrem Tisch hervorkriecht und leise und beschämt hinausschleicht. - Unverrichteter Sache ziehen die beiden Frauen verzagt nach Hause und gehen ins Bett.
Um drei Uhr etwa poltert der Mann nach Hause. Aber diesmal schlägt er Frau und Kinder nicht. Er tastet sich in die Küche, nimmt dort einen gefüllten Trinkwassereimer und torkelt damit vor Mariens Kammertür, die weder Schloß noch Riegel hat. Sie hört alles. Plötzlich wird die Tür aufgerissen und der Trunkenbold steht vor ihr. In ihrer Angst zieht sie das Deckbett über den Kopf. - „Das hast du für das Abholen, du ....“ hört sie ihn fluchen und dann gießt er dem Mädchen den ganzen Wassereimer ins Bett. Da liegt sie nun im Wasser, das Deckbett, Kissen und Unterbett durchdringt. Gelähmt vor Schrecken und Verlassenheit liegt sie weinend und zitternd im nassen Bett die ganz übrige Nacht. Da fühlt sie zum ersten Mal das Gefühl der Empörung in sich aufsteigen. Ihr Entschluß reift: hier bleibst du nicht. Am Morgen leistet die Frau Abbitte für den betrunkenen Mann; sie möge doch nicht übelnehmen und auch weiterhin bei ihnen bleiben, denn sie sei eine anerkannte treue Hilfe. Aber Marie bleibt stumm. Dann kommt die alte Mutter der Hausfrau und bittet noch einmal: Der Haushalt würde zu Grunde gehen, wenn sie die Familie verließe. Aber Angst und Empörung sitzen schon zu tief in dem Mädchen. Wortlos packt sie ihre Sachen und geht zu ihrer Mutter. Die behält sie wieder bei sich, bis ein neuer Dienst gefunden ist.
Und der findet sich bei einem Gastwirt Ziepert. Damit beginnt für Marie ein nicht weniger schweres Leben. Schlechtes Essen und ungenügender Schlaf gehören hier zu ihrem Leben. Bis Mitternacht muß sie den trinkendenMännern das Bier reichen und den Schnaps bringen. Früh muß sie wieder auf sein, um die verdreckte Gaststube zu reinigen. Zum Frühstück erhält sie ein Stück Brot und ein trübes, gelbliches, kaltes Getränk, das sie noch nicht kennt und das ihr nicht schmeckt. Eines Abends sieht sie durch den Türspalt, wie die Wirtin die stehengebliebenen Reste aus den Biergläsern in ein besonderes Glas zusammengießt und es beiseite stellt. Marie merkt sich den Platz, an dem es steht. Als sie des morgens die Kneipe aufräumt, steht es noch immer da. Die Wirtin bringt ihr das Frühstück, nimmt das Glas mit den Bierresten und reicht es ihr! Der Ekel steigt in Marie hoch: das also war jenes schale, übel schmeckende Getränk, das sie hier bisher an jedem Morgen bekommen hat. Nie wieder hat sie davon getrunken, hat es heimlich fortgegossen und lieber klares Wasser genommen.
Arbeit, wenig Schlaf und karges Essen geben Hunger. Als der einmal zu arg wird, geht sie in die Speisekammer, greift sich einen Salzhering und schlingt ihn hinunter mit Schwanz und Gräten. Aber die geizige Hausfrau hat ihre Heringe gezählt und entdeckt den kleinen Mundraub. Ein Hagelwetter von Schimpfworten prasselt auf Marie nieder, und der Schluß ist: „Du hast gestohlen, du mußt mit zur Polizei!“ Die erregte Frau läßt es nicht bei ihrer Drohung. Sie packt das heulende Mädchen am Arm und schleppt es tatsächlich auf die Wache.
Das ist das Schlimmste, was Marie passieren kann! Scheltworte hat sie ertragen gelernt, auch Schläge sind ihr wohlbekannt, aber die Polizei ist für das einfältige Kind ein Höllenschrecken! So erscheint das sonderbare Paar vor dem gestrengen Wachtmeister. Der sieht das schmale, blasse Kind mit den rotgeweinten Augen und dem hilflosen Blick; und neben ihm die stattliche, aufgebrachte Wirtin, der man keinen Hunger ansieht. Er macht sich seine Gedanken . . . ! Die Frau Wirtin ist ihm keine Unbekannte.
„Herr Wachtmeister, dieses Mädchen hat gestohlen!“
„Was hast du denn gestohlen, mein Kind?“
„Einen Hering ... ich wills auch nie wieder tun!“
„Einen Hering? - Und deshalb laufen Sie zur Polizei?“
Dann wendet sich der Beamte zu Marie freundlich und väterlich:
„Und warum hast du den Hering genommen?“ -
„Weil ich hungrig war.“
Dem Wachtmeister ist es schon längst klar, worum es sich handelt. Er sieht in einen Abgrund von Geiz, Härte und Menschenschinderei. Das Ende ist, daß der Wachtmeister über die Wirtin in Zorn gerät und ihr eine wohlverdiente Abfuhr erteilt. Marie aber sieht zu, daß sie eine andere und bessere Stelle findet, wo sie keine kalten Bierreste zu trinken bekommt und sich vor Hunger keinen Hering heimlich zu nehmen braucht.
Wer seine Heimat noch nicht gefunden hat, wer überall umhergestoßen, ausgenutzt und geschunden wird, der sucht nach Menschen, die es gut mit ihm meinen. So tut es auch unsere Marie.
Sie findet einen Kreis Menschen, die freundlich sind, denen sie vertrauen darf - einen stillen Hafen, in dem sie sich - wenn auch nur auf Stunden - wenn auch nur auf Stunden sicher fühlt vor den Roheiten der Kneipe, vor Scheltworten und Arbeitshetze. Irgend eine Freundin nimmt sie mit in die Bibelstunden einer christlichen Gemeinschaft. Das ist einmal etwas anderes als Gläserwaschen und Tellergeklapper. Da werden Lieder gesungen, die Marie versteht und die so einfach sind, daß sie sie bald mitsummen kann. Da wird die Bibel ausgelegt, daß es auch der einfachste Mensch fassen kann. Und dem, der alles Vertrauen zu Menschen verloren hat, wird ein neues Vertrauen geschenkt; das Vertrauen zu Gott. Wie tief muß auf dies umhergestoßene Menschenkind die Botschaft gewirkt haben, daß Gott sich auch der Armsten und Verachteten annimmt. Hier herrscht Vertrauen zu einander. "Bruder" und "Schwester" darf man zu einander sagen.
Marie ist in einen Kreis christlicher Stundenleute hineingeraten, die es mit der Bibel allzu wörtlich nehmen. Weil im Neuen Testament steht: "Grüßt einander mit heiligem Kuß", begrüßt der Prediger jeden Teilnehmer mit einen Kuß. Das läßt sich durchführen bei zwanzig oder dreißig Besuchern. Wenn sich aber Kopf an Kopf drängt, kann eben nicht jeder einen Kuß bekommen, das würde zu lange dauern. In diesem Falle begnügt sich der Prediger mit den jungen Mädchen. In einer anderen Gemeinschaft richteten sich die Frommen wörtlich nach der Mahnung des Apostels Paulus: „Schaffet eure Seeligkeit mit Furcht und Zittern!“ Da fangen sie in der Bibelstunde an zu zittern und angstvolle Laute auszustoßen. Sie geraten in Erregung, es wird so laut, daß der Prediger nicht mehr zu hören ist. Es wächst sich aus zu tumultartigen Formen; die Polizei kommt und verbietet diese Versammlungen. Es dauert nicht lange, da erkennt man, daß die Seligkeit mit der allzu wörtlichen Befolgung des Pauluswortes nicht zu schaffen ist.
Der Weg in die christliche Gemeinschaft ist für Marie der Weg in ein neues Leben. Dort lernt sie zwei unserer Urgoßeltern kennen.
Die Urgroßmutter bietet ihr eine Stelle bei ihrer Schwiegertochter in Danzig an. - Kurze Zeit vorher zieht ein Zigeunerwagen durch Tilsit. Marie und ihre jüngere Schwester opfern ein paar Groschen und lassen sich von der alten Zigeunerin die Karten legen! Marie hört da eigenartige Werte: Ihr Wanderleben, ihr Herumgestoßensein soll bald aufhören. Sie wird in nicht langer Zeit zu einer Herrschaft kommen, bei der sie bis zum Tod bleiben wird. Wo diese Herrschaft hinzieht, wird sie überall mitziehen, die halbe Welt wird sie mit dieser Herrschaft durchreisen. - Auch die jüngere Schwester läßt sich aus den Karten die Zukunft sagen. Immer wieder muß das Mädchen die Karten mischen und auf den Tisch legen. Immer wieder runzelt die Alte die faltige Stirn. Nach langem Schweigen bereitet sie das junge Mädchen auf einen baldigen Tod vor. - Nach einem halben Jahr ist die tot – sechzehnjährig.
Dann kommt der Tag, an dem Marie aus der Kneipe erlöst wird und die Urgroßmutter sie zum Zuge nach Danzig bringt. Dort wohnen die Großeltern.
Auf dem Bahnhof fängt sie an zu weinen, denn noch nie hat sie einen Eisenbahnzug aus der Nähe gesehen. Es scheint ihr undenkbar, daß sie im Bauch des dunklen Wagens verschwinden soll. Trotz ihrer nun einundzwanzig Jahre steht sie da, flennend wie ein Kind. Der Schaffner muß geholt werden und es gelingt seinem guten Zureden, sie ins Abteil zu bringen. Denken wir ein wenig an diesen geduldigen und gutmütigen Schaffner, dem die Urgroßmutter das Mädchen anvertraut und der die ganze winterliche Nachtfahrt mit dem widerspenstigen und hilflosen Ding sein Not hat. Marie hat nämlich gehört, daß Stationen zum Aussteigen sind. Kaum hält der Zug das erste Mal - da findet der Schaffner auch schon das Landkind auf dem Bahnsteig - „Perron“ sagt man damals. „Ist hier schon Danzig?“ - „Nein, noch lange nicht! Erst kommt Insterburg und dann Wehlau und dann Königsberg, und dann ist es erst der halbe Weg! Ich hol sie schon raus, wenn es soweit ist!“ - Da muß Marie wieder zurück in die vierte Klasse, das waren damals bessere Viehwagen mit kleinen, vergitterten Fenstern und schmalen Türen. Bänke suchte man vergeblich. Mit solchen Luxus durfte man die armen Leute nicht verwöhnen, die hatten ja Beine zum Stehen oder ein Bündel zum Sitzen! Marie hat sich in ihr Schicksal ergeben, lehnt an der Wand oder sitzt auf ihren Sachen. Schon bereut sie die Fahrt. Wieder pfeift die Lokomotive und der Bummelzug hält von neuem. Vergessen sind die Erklärungen des Schaffners und sie steigt aus mit ihrem Gepäck. Gerade will der Zug wieder abfahren, da entdeckt der Beamte sie auf dem nachtdunklen Bahnsteig. Gerade kann er den Zug noch anhalten und Marie in den Wagen zurückbringen. Die Mitreisenden schauen sie verdutzt an und halten sie für nicht recht klug. Sie aber fühlt sich verraten und verkauft und denkt im Geheimen, daß der Schaffner sie entführen will. Denn von solchen Dingen hat sie schon grausige Berichte gehört. Wieder packt sie eine Verzweiflung, heult und weint. Die Reisenden bekommen Mitleid mit dem großen Kind. Sie bieten der Hilflosen Brot an, um sie durch Essen zu beruhigen. Und richtig - es scheint zu gelingen . Doch nach fünf oder sechs Stationen packt sie nochmals die große Angst. Sie läßt sich nicht halten und steht bald wieder auf dem Bahnsteig. Aber da ist auch schon der aufmerksame Wächter da und schiebt Marie in den Wagen zurück. So geht es die ganze Nachtfahrt hindurch.
Endlich, im Morgengrauen des 2. Januar 1886 läuft der Zug in Danzig ein. Nun endlich darf Marie aussteigen. Da steht sie auf dem dämmrigen Bahnsteig im fahlen Licht der Gaslaternen. Die eine Hand umkrampft den rot karrierten Bettbezug, der ihre Habseligkeiten enthält, in der anderen hält sie als Erkennungszeichen für den Großvater ein Sonntagsblatt der Tilsiter Gemeinschaft. Richtig - da steht er vor ihr: ein schlanker Mann in mittleren Jahren! „Sie sind die Marie aus Tilsit?“ - „Ja“ - „Guten Morgen, Marie, dann kommen Sie nur.“ - Aber da steigt schon wieder der schwarze Verdacht auf. Soll sie dem fremden Mann folgen? - Haben Männer je Gutes mit ihr im Sinne gehabt? Sie zögert und sperrt sich. Der Großvater muß alle seine Beredsamkeit aufbieten und ihr freundlich zureden. Endlich entschließt sie sich zu folgen.
Unsere Großmutter Dorothea Urbschat wird nicht gerade erbaut gewesen sein, als sie Mariechen sah. Kann man in einem großen Stadthaushalt solch ein verängstigtes, verheultes, mißtrauisches Mädchen brauchen, das noch nicht einmal richtig deutsch sprechen kann und die fehlenden Worte durch litauisch ersetzt?
So sitzt sie nun am Tisch und trinkt ihren ersten Kaffe bei Menschen, die sie nie mehr verlassen soll. Die damals siebenjährige Dora, die spätere Frau Pfarrer Seeger, sitzt ihr gegenüber und betrachtet die neue Hausgenossin, die in ihrem groben, von der Mutter selbst gewebten Leinenkleid das Morgenmahl einnimmt. Nach langem Schweigen platzt Dorchen heraus: „Miarie, an deinem Kleid fehlt ja ein Knopf! Den mußt du aber gleich annähen!“ Es ist merkwürdig, wie sich die ersten Worte, die man von einem Menschen hört, manchmal dem Gedächtnis so stark einprägen, daß man sie noch nach fünfzig Jahren hört!
Schritt für Schritt wächst nun Marie in eine für sie völlig neue Welt hinein. Langsam lernt sie, daß in einem großen städtischen Haushalt das Essen pünktlich auf dem Tisch sein muß, daß man da gründlich Staub wischen und öfter fegen und wischen muß, als in einer Kneipe .... - Besondere Mühe macht ihr das Feueranzünden. Immer wieder geht das widerspenstige Feuer aus und als die Kinder zur Schule müssen, ist der Kaffee noch nicht fertig. - Ja - die Großmutter hat schon ihre Mühe mit dem unsauberen und ungeschickten Mädchen, bis sie einmal seufzt: „Marie, du verstehst doch zu wenig, ich kann dich nicht behalten!“ Das war der erste Tadel - und nicht einmal ein Scheltwort dabei. Da fällt es Marie ein, daß sie in diesem ersten acht Tagen noch kein grobes, unflätiges Wort gehört hat, daß sie nicht herumgestoßen und nie geschlagen wurde, daß sie kein Johlen betrunkener Männer gehört hat. „Nur nicht wieder fort von dieser Stelle, nur nicht wieder in die alte Hölle hinein,“ dachte sie. Von nun an steht sie schon um vier Uhr auf, um das Feuer in Gang zu bringen. Aber bevor sie die Streichhölzer zur Hand nimmt, betet sie, der liebe Heiland möge ihr doch helfen! Und es geht! Bald merkt die Großmutter diesen Fleiß und beschließt im Stillen, das Mädchen zu behalten. Kaum ist ein Jahr herum, kann man der Marie bereits manches anvertrauen, auch wenn sie weder lesen noch schreiben kann.
Die Kinder der Familie Urbschat schließen mit der neuen Hausgenossin rasch Freundschaft. Die kleine Dora begleitet sie bei den Einkäufen. Die großen Jungens haben es bald heraus, daß das täppische Menschenkind aus Litauen alles glaubt und auf alles hineinfällt. Sie kaufen sich etwas Phosphor und malen damit allerhand gräuliche Fratzen an die Wand der Mädchenkammer. Als Marie mitten in der Nacht aufwacht, glotzen sie diese scheußlichen Gesichter an. Am anderen Morgen erzählt sie von den Gespenstern, die sie nachts in ihrer Kammer ängstigen.
Der pfiffigste von den Brüdern verkleidet sich einmal in einen alten Bettler, drückt einen alten Hut tief ins Gesicht und hängt sich einen grauen Bart um. Dann stellt er sich vor die Wohnungstür und klingelt. Marie öffnet. „Ein armer alter Mann bittet um ein Stückchen Brot!“ Marie geht mitleidig in die Küche und reicht ihm etwas Essbares. Da packt der verkleidete Bettler sie am Kragen und schleift sie die Treppe hinunter. Aus Leibeskräften schreit Marie um Hilfe. Die Hausbewohner stürzen erschreckt auf den Korridor, um das Mädchen zu befreien. Da reißt der unartige Bube Hut und Bart herunter, und Mariechen muß gut Miene zum bösen Spiel machen.
Die Großmutter muß zu Soldaten nicht viel Zutrauen gehabt haben. Sie schärft der Marie ein, daß sie auf der Straße keinem Soldaten folgen dürfe, selbst wenn er sehr freundlich wäre. Soldaten wollen nämlich nur Mädchen verführen. Seitdem geht Marie jedem Soldaten aus dem Wege. - Dann aber kommt ein Tag, da wird sie an der Weltordnung irre. Ihr Dorchen verlobt sich - mit 15 Jahren! - ausgerechnet mit einem Soldaten!! Der Vater Johannes Seeger diente damals gerade sein Jahr ab. Mißtrauisch beobachtet sie den Soldaten und glaubt nichts anderes, als daß er Dorchen nur verführen wolle. Es dauert lange, bis das Mißtrauen überwunden ist. Denn der Soldat entpuppt sich als Pfarrer. Als wertvollsten Brautschatz gibt die Mutter ihrer Dora Marie mit in die Ehe. Und Marie willigt in den Plan ein, nachdem sie schon elf Jahre in der Familie der Großeltern Urbschat gedient hatte. So ziehen die drei in das Pfarrhaus am Meer auf der weltfremden Halbinsel Hela . Mariechen ist schon längst nicht mehr „Dienstmädchen“, sie gehört zur Familie. Sie arbeitet nicht um Lohn, sondern aus Liebe und Treue. Was sie braucht, bekommt sie meist geschenkt; mit dem regelmäßig gezahlten Lohn ist ja ihre Treue nicht zu bezahlen. So kann sie an dem Monatsersten fast ihren ganzen Lohn zur Sparkasse tragen, der sich im Lauf der Jahrzehnte zu einem kleinem Vermögen mehrt. Den ersten tausend Mark folgen die zweiten und dritten; sie ist die reichste in der Familie. Die Pfarrersleute müssen ihr Erspartes immer wieder zum Arzt und Apotheker tragen, und die zahlreichen Gäste lassen im Sommer etwaige Ersparnisse von einsamen Wintern immer wieder zusammenschmelzen. Nun kommen die Freier und wollen Marie's Geld heiraten: verlotterte kleine Landwirte, trunkliebende Handwerker machen sich an sie heran, wenn sie auf Urlaub in ihrer alten Heimat bei ihren Geschwistern ist. Merkwürdig - ein wirklich anständiger Mensch kommt nicht auf den Gedanken, Marie zur Frau zu nehmen. Auch kein Helaer Fischer macht sich an sie heran.
Aus der Hela-Zeit gab sie nur wenige Begebenheiten zum besten. Einmal glaubte sie, das jüngste Gericht bräche herein und hat eine halbe Nacht betend und furchtsam zugebracht. In tiefer Nacht erwacht sie, die weiße Wand neben sich rot übergossen. Sie kann nicht mehr schlafen. Am anderen Morgen berichtet sie von der eigenartigen Erscheinung. Die Eltern schütteln erstaunt die Köpfe. Noch am gleichen Tage wird bekannt, daß ein mächtiges Großfeuer in Neufahrwasser einen riesigen Zuckerspeicher vernichtet hat, auf der anderen Seite der Danziger Bucht, etwa 20 km von Hela über Wasser!
An einem Winterabend geht Marie wohl sehr müde die Treppe hoch in ihre Kammer. Dazu muß sie eine breite Diele überqueren, an der ihr Schlafraum lag. An den Wänden der Diele standen Schränke. Die Eltern sitzen unten im Wohnzimmer noch beisammen beim Schein der Petroleumlampe. Mit einmal hören sie von oben Marie's verzweifelte Hilfeschreie: „Herr Pfarrer, Herr Pfarrer! Mörder! - Diebe!!“ Vater nimmt die Lampe und stürzt die Treppe hinauf. Da steht Mia halb in einem Kleiderschrank. Die Kleider wurden in ihrer Phantasie zu Dieben und Mörder! Es war wirklich ein riesiger Schrank, dessen Tür man im Dunkeln mit einer Kammertür verwechseln konnte .... , wenn man sehr müde war. Dieser große Schrank hat uns noch lange begleitet. Wir nannten ihn scherzhaft: „Die Straßenbahn!“
Im Sommer steckte das Pfarrhaus voller Feriengäste. Das war verständlich. Knapp 50 Meter vom Haus entfernt war man schon in der See! Ein Ferienparadies, dazu noch ein musikalisches! Abends wurde musiziert, Klavier, Geige, Gesang, Flöte .... Die Fenster standen weit auf. Unten versammelten sich Zuhörer aus dem Dorf. Mariechen aber deckte im Oberstock die Betten der Gäste ab und brachte die Waschtische in Ordnung. Verbrauchtes Wasser wurde in einem Eimer geschüttet und sollte eigentlich heruntergetragen werden. Aber Mia war schon seit 5 Uhr auf und machte kurzen Prozeß: Sie schüttete in diesem Fall den "Plänscheimer" einfach aus dem Fenster. Da klang mitten in ein Adagio hinein ein gurgelndes "AUÄÄÄh"! Wir werden nie vergessen, wie naturgetreu sie diesen Entsetzenslaut nachahmen konnte.
Das Glück einer echten, wahren Liebe und Ehe ist an ihr vorübergegangen, aber dadurch ist ihr Leben nicht sinnlos geworden. All ihre Treue, ihre Liebe und Mütterlichkeit hat sie an uns verschwendet. Wir, für die sie lebte, können uns unsere Jugend, unser Elternhaus nicht ohne sie denken. Durch ihre selbstlose Arbeit gab sie den Eltern die Möglichkeit, alle Kräfte in ihren geistlichen und künstlerischen Dienst an Menschen zu stecken. Ihre kleine, etwas gebückte Gestalt steigt vor uns auf, wenn wir das Wort „Treue“ aussprechen.
Im einundsiebzigsten Lebensjahr ist sie in Klein-Wanzleben, der letzten Pfarrstelle der Eltern, gestorben ... an Leberkrebs. Mutter hat sie treu zu Tode gepflegt. Das war am Sonntag, 25. März 1934. Am Mittwoch (28.3.) haben wir sie begraben. Ihr Sarg stand im Gartenzimmer unseres Pfarrhauses in Klein-Wanzleben. Die Frühlingssonne schien auf die Blumen und Kränze. Eine kleine Familiengemeinde und eine Reihe von Dorfgenossen hatten sich eingefunden. Bewegt hielt Vater ihr und uns die Predigt. Nach dem Segen und dem letzten Amen schlug unsere alte zweihundertjährige Spieluhr langsam die vier Schläge der Nachmittagsstunde. Dann setzte ihr helles, silbernes Glockenspiel ein mit dem Choral:
NUN DANKET ALLE GOTT ...
unvergesslich - diese letzte Minute vor dem Weg auf den Friedhof.
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Familie Seeger.)